Fast jedes Jahr die selben Ansätze:
Wollte die DDR-Bevölkerung bereits 1953, vier Jahre nach der Gründung der Republik, die deutsche Einheit? Wagte sie deshalb am 17. Juni 1953 einen „Volksaufstand“ gegen die SED, wie es die Bundesregierung bis heute behauptet?
Ein Prof. Roesler dazu:
An diesem Tag haben sich vor allem die Arbeiter als Hauptbetroffene gewehrt gegen das, was damals Sparpolitik genannt wurde und heute Austeritätspolitik heißt – also ein ganz normaler Fall in der Geschichte, in dem Fall die DDR betreffend. Im Vergleich: Die Bundesrepublik bzw. die westliche Bizone von USA und Großbritannien hat dasselbe erlebt, bis hin zum Eingreifen des Militärs.
Das war im Herbst 1948, als durch die Währungsreform und die Abschaffung der Festpreise die Preise zum Beispiel für Konsumgüter mit einem Mal in die Höhe schossen und die Löhne ungefähr gleich blieben. Es gab einen Protest-Streik in der US-amerikanisch-britischen Bizone im November 1948. Und es gab die sogenannten Stuttgarter Vorfälle im Oktober 1948, wo die Arbeiter mit Gewalt vorgingen und die US-Truppen eingreifen mussten.
Ich würde es mit dem DDR-Kenner Dietrich Staritz „Arbeiter-Rebellion“ nennen, denn sie kämpften gegen die Verschlechterung ihrer Lage. Die war eingetreten durch die Verringerung des Lohnes in Folge von Normerhöhungen. Die Normen waren aber nicht so hart wie im Kapitalismus, sondern ein bisschen weicher. Die SED-Führung entschloss sich dazu in einer schwierigen Situation in Folge der Aufrüstung, zu der die DDR verdammt wurde, nachdem Stalin den Plan aufgegeben hatte, ein gesamtes, neutrales Deutschland zu erreichen, siehe die sogenannte Stalin-Note von 1952. Das war also der Ausgangspunkt: Mit einem Mal sollten die Arbeiter für dasselbe Geld mehr arbeiten. Doch die Arbeiter haben gesagt: „Wir denken nicht daran!“ Sie waren gegen die Normen, weil sie direkt in ihren Lebensstandard eingriffen. Daraufhin wurde verordnet, die Normen sind um soundsoviel Prozent zu erhöhen. Dann kriegen sie weniger Geld. Da sind die Arbeiter dann auf die Straße gegangen.
Als die Regierung nicht auf die ersten Proteste reagierte, ohne Verständnis für die Lage der Arbeiter, erst da springt das um. Da wurde dann gesagt: Wenn diese Leute sowas machen, dann müssen sie weg! „Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille“ war einer der Losungen dann. Das hieß: Wir brauchen eine neue, eine andere Regierung. Die Wiederherstellung des Privateigentums und des Kapitalismus ist nicht gefordert worden.
Eine Nebengeschichte ist, dass die SED auch gegen die Privateigentümer vorging, die es in der DDR damals mehr gab als in anderen Ländern Osteuropas in dieser Zeit. Das geschah im Rahmen des 1952 verkündeten Aufbaus des Sozialismus. Das geschah nun ausgerechnet auch noch im Konsumgüterbereich, im Dienstleistungsbereich und im Handwerk. Das traf dann also doppelt. Die Veränderung der Eigentumsverhältnisse ging in die gleiche Richtung wie die Verschlechterung der Lage durch Rüstungsanstrengungen.
Aber gegen diese Rüstungsforderungen konnte sie erst einmal nichts machen. Sie war nicht mehr Herr der Lage. Die DDR musste die Nationale Volksarmee (NVA) und die bewaffnete Grenzpolizei aufbauen. Es ist wie heute in der internationalen Spar-Politik, von der Länder getroffen werden: Was soll die Regierung machen?
Chruschtschow hatte dann nach 1953 ein anderes Konzept für die DDR. Das hat sich dann auch im „Neuen Kurs“ ausgezahlt. Das Konzept war: Nachdem ja die Sowjetunion die Wasserstoff-Bombe hatte, 1952, geht es nicht mehr ums Wettrüsten, weil das alle beide total kaputt gemacht hätte. Jetzt ging es darum, wer wirtschaftlich überlebt.
Dann haben die gesagt: Die DDR müssen wir unterstützen. In der wirtschaftlichen und technologischen Auseinandersetzung kommt bei denen, wenn wir da jetzt Geld reinstecken und ihnen ihre Zwänge wegnehmen, am meisten raus. Chruschtschow hat also sehr großzügig die DDR gefördert. Ohne die großzügige Hilfe aus der Sowjetunion war in der DDR nur wenig möglich. Sie spielte auch später eine große Rolle, auch negativ.
Der Einfluss des Westens war insofern sehr groß, dass der RIAS ab März 1953 Sendungen zur Normenfrage gebracht hat. Er hatte damit eine Hintergrundfunktion. Er hat das ja nicht erfunden. Er wäre mit der Normenfrage als Thema völlig daneben gelandet, wenn es das Problem im Osten nicht gegeben hätte. Der Sender hat das Problem aufgegriffen und für alle verständlich dargestellt und hat natürlich damit mobilisiert. Es gab ja keine zentrale Organisation der Streikenden. Das hat der RIAS ersetzt, mit Ansagen der Orte der Demonstrationen, Uhrzeiten. Das ging bis ins Einzelne.
Selbst Willy Brandt betonte 1955 in seiner Schrift „Arbeiter und Nation“, es habe am 17. Juni 1953 nirgends eine restaurative Tendenz unter den Arbeitern gegeben, dafür durchaus unzweideutige Vorbehalte gegenüber der westdeutschen Politik. Den Demonstranten sei es keinesfalls um eine einfache Angliederung der DDR an die Bundesrepublik gegangen, meinte Brandt. Das stammt immerhin von einem westdeutschen Politiker, der dicht dran war. Deshalb komme ich zu dem Schluss: Es war eine Arbeiter-Rebellion, aber keine Revolution oder „Aufstand gegen das Regime“.
Dieses SED-Bild vom „konterrevolutionären Putsch“ hat später jede vernünftige Aufarbeitung in der DDR verhindert, das muss man dazu auch sagen. Der Westen hatte seine falsche Aufarbeitung und der Osten hatte seine auch.
Es war ihre erste schwere innere Krise, nicht nur aus inneren Ursachen, die sie löst. Die nächste Krise, die 1961 ihren Höhepunkt erreichte, war darauf zurückzuführen, dass es offensichtlich wurde, dass die Aufholziele des 1959 in Kraft getretenen Siebenjahrplanes (1959-1965) auf keinen Fall erreicht werden konnten, nämlich die Bundesrepublik einholen zu wollen. Da sind die inneren Fehler viel größer als am 17. Juni 1953. Dem folgte die Krise 1969/70, wo der Teil der SED-Führung unter Erich Honecker Ulbrichts Sparpolitik, der damit den wissenschaftlich-technischen Fortschritt bezahlte, beendete.
Die nächste Krise wird ganz deutlich 1981 mit den Folgen des Erdölpreis-Schocks und der Tatsache, dass die DDR auch mit einer klugen Politik nicht in der Lage ist, die zu beseitigen. Die letzte Krise ist die Lähmungs-Krise ab Mitte der 1980er Jahre, nachdem es wegen der internationalen Preisentwicklung nicht gelungen ist, aus der Verschuldung rauszukommen, was dann wieder zur Verschlechterung der Lebenslage führte.
Prof. Dr. sc. oec. Jörg Roesler (Jahrgang 1940) war von 1974 bis 1991 Bereichs- bzw. Abteilungsleiter am Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Er hatte 1992 eine Gastprofessur an der McGill-University in Montreal, 1994/95 in Toronto, Kanada. Bis 1995 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentrums für Zeithistorische Studien, Potsdam, danach arbeitslos, ab 1999 selbständig. Er hielt Vorlesungen im Fach Volkswirtschaft an der Universität der Künste, Berlin-Charlottenburg. 2006 hatte er eine Gastprofessur an der Portland State University/USA (Sommersemester). Roesler ist Mitglied der Leibniz-Sozietät.