Greifswalder Mythen: Rudolf Petershagen
Rudolf Petershagen wurde in der DDR zur mythischen Gestalt. Ohne ihn hätte es die kampflose Übergabe Greifswalds 1945 nicht gegeben. Stadtarchivar Uwe Kiel präsentiert neue Erkenntnisse.
Am 13. April vor 50 Jahren starb mit Rudolf Petershagen im Alter von 68 Jahren. Tausende Bürger kondolierten. Zur öffentlichen Trauerfeier kamen mehrere Hundert Menschen. An seinem Sarg nahmen Vertreter aller DDR-Parteien Aufstellung. Petershagen gehört wie viele ehemalige Offiziere der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NDPD) an. Am 18. April 1969 gab es noch eine zweite Trauerfeier für geladene Gäste im Krematorium.
Als militärischer Kommandant Greifswalds hatte der Oberst entscheidenden Anteil an der kampflosen Übergabe der Stadt an die Rote Armee am 30. April 1945. Ab Mitte der 1950er Jahre war er beständiger Gast auf Ehrentribünen. Sein 1961 verfilmter Bestseller „Gewissen in Aufruhr“ aus dem Jahre 1957 erreichte 23 Auflagen. Petershagen war bei seinem Tode eine geradezu mythische Gestalt. Der Träger des Vaterländischen Verdienstordens und der Ernst-Moritz-Arndt-Medaille wurde nach seinem Tod Namenspate einer Straße und einer Kindertagesstätte. Er ist Ehrenbürger der Stadt und Ehrensenator der Uni. Die Ehrendoktorwürde der Uni Greifswald hätte er auch gern gehabt. Aber Dr. h. c. wurde Petershagen nicht, berichtete Stadtarchivar Uwe Kiel am Donnerstag im Rathaus. Er beschäftigt sich seit Jahren mit der Biographie Petershagens und hat eine Reihe neuer Erkenntnisse gewonnen. So war Petershagen viele Jahre Informand des Ministeriums für Staatssicherheit und versuchte zugleich, den Geheimdienst für seine Zwecke zu instrumentalisieren.
Selbst die Stehplätze im Bürgerschaftssaal des Rathauses waren beim zweistündigen Vortrag des Stadtarchivars knapp. Für Kiel steht fest: Die entscheidenden Akteure der kampflosen Übergabe waren Petershagen, sein Stellvertreter Oberst Otto Wurmbach und die von ihm bevollmächtigten Parlamentäre, der Unirektor Prof. Carl Engel und der Oberstarzt und Direktor der Medizinischen Kliniken Prof. Gerhardt Katsch – alles Mitglieder der nationalsozialistischen Führungselite. Ohne das Militär wäre die kampflose Übergabe nicht möglich gewesen, das mache Petershagen zur Schlüsselfigur. Kiel würdigte zugleich das Engagement weiterer Bürger, die sich für die Rettung der Stadt einsetzten und an die seit 2011 eine Tafel im Rathausfoyer erinnert. Dazu gehören Mitglieder einer Widerstandsgruppe, wie der Kommunist Hugo Pfeiffer und der Wiecker Pastor Gottfried Holtz ebenso wie der Stellvertretende Oberbürgermeister Siegfried Remertz. Bis der frühere Kampfkommandant zur Heldenfigur von DDR-weiter Bedeutung wurde, vergingen etwa zehn Jahre.
Petershagen war ab dem 2. Mai 1945 bis 1948 in sowjetischer Kriegsgefangenenschaft. Er kehrte nach Greifswald zurück und wohnte wieder in dem Offiziershaus am Pommerndamm (1939 bis 1945 Adolf-Hitler-Damm, ab 1952 Straße der Nationalen Einheit bis 1970), das er 1938 mit seiner Frau bezogen hatte. Petershagen hatte es zunächst schwer, wirtschaftlich über die Runden zu kommen. Der frühere Wehrmachtsoffizier wurde 1951 wegen vermeintlicher Spionage für die UdSSR vom amerikanischen Geheimdienst verhaftet und 1952 zu sechs Jahren Haft verurteilt. Die Strafe verbüßte er im Kriegsverbrechergefängnis Landsberg und im Zuchthaus Straubing. Kiel hat sich eingehend damit befasst. Petershagen war zwischen die Fronten des Kalten Krieges geraten. Es sei ein politisches Urteil im Rahmen eines rechtsstaatlich geführten Prozesses gewesen, fasst Kiel zusammen. 1955 wurde Petershagen begnadigt und – die Bundesrepublik hatte inzwischen einen Teil seiner Souveränität wiedererlangt –und tauschte ihnen gegen einen Gefangenen in der DDR aus. Er kehrte nach Greifswald zurück, Petershagen erhielt im gleichen Jahr die Ehrenbürgerwürde. Im zugehörigen Brief wird er als streitbarer Patriot, Kämpfer für den Frieden und Kämpfer gegen die Wiederaufrüstung Westdeutschlands gewürdigt. Petershagen verdrängte einen anderen wichtigen Akteur der kampflosen Übergabe als Zentralfigur des 30. April 1945: den Medizinprofessor und Rektor der 500-Jahr-Feier der Uni 1956, Gerhardt Katsch, der auf einer Liste von 1945, auf der Petershagen fehlt, erst an siebter Stelle genannt wird. Wichtige Akteure von 1945 wie Siegfried Remertz, Bürgermeister Richard Schmidt und Carl Engel waren im sowjetischen Internierungslager Fünfeichen ums Leben gekommen. Pfeiffer, zunächst sogar Greifswalder OB, war in Konflikt mit seiner Partei geraten und spielte keine Rolle mehr.
Die Geschichte Petershagens als eines Kämpfers gegen die Politik Konrad Adenauers eignete sich gut für die DDR-Propaganda im Kalten Krieg. Kiel hat schon 2011 bei der Einweihung der Tafel für zunächst 18 Retter Greifswalds davon gesprochen, dass die um einen gewissermaßen „harten Kern“ realer Fakten herum entwickelte Petershagen-Geschichte „Eine zutiefst aktuell-politische, legitimatorische Funktion“ in der Systemauseinandersersetzung bekam. 1965 gab es eine große wissenschaftliche Konferenz der Historiker, laut Kiel eher eine Propaganda als eine wissenschaftliche Veranstaltung. Ein Jahr später erfolgte die Einweihung der Bronzetür des des Rathauses von Jo Jastram, die Widerstand und kampflose Übergabe würdigt. Als der schwerkranke Petershagen 1969 starb, war er modern gesprochen so etwas wie ein Popstar der DDR.