Die „Blaue Grenze“ hieß die Grenze an der Ostsee offiziell in der DDR. Die gesamte Küste war Grenzgebiet. Erreichte man seinen Badeort, musste man sich umgehend polizeilich anmelden. Nach Einbruch der Dunkelheit strahlten Suchscheinwerfer das Meer ab und man wurde durch Grenzer vom Strand vertrieben. Doch so wie es an den letzten 20 Kilometern Küste vor der Westgrenze aussah, wussten nur die dortigen Bewohner, denn dieser Streifen war für Ortsfremde weiträumig abgeriegelt. Die Mecklenburger zwischen Brook und Priwall waren doppelt eingesperrt. Und doppelt muss ihre Freude nach der Grenzöffnung am 9. November 1989 gewesen sein.
Das Mecklenburger Dorf Brook liegt gut einen Kilometer von der Ostsee entfernt und knapp zwanzig von der Landesgrenze nach Schleswig-Holstein. Mit dem Fahrrad braucht man für die Strecke etwa eine Stunde. Der asphaltierte Radweg hinter dem Strand folgt dem Auf und Ab der Steilküste. Zum Meer hin: Undurchdringliche Brombeerhecken, übermannsgroße Sanddornsträucher. Landeinwärts: Den Weg begleitendes, gewelltes Heideland, keine Straßen, nur entfernt ist hin und wieder ein Haus auszumachen. Bis vor zwanzig Jahren patrouillierten hier die Jeeps der DDR-Grenztruppen – das Heideland war der sogenannte Todesstreifen, und genauso verriegelt wie damals der Strand vor Brook.
Günther Klüwer: „Von der Ecke genau sind das 920 Meter und da war gleich hinter das Haus, 10 Meter, da war der eiserne Vorhang oder Zaun. Und vor dem Zaun war ein Zehnmeterstreifen, der wurde geharkt und gepflegt. Da ging jeden Tag zweimal der Posten durch und hat auf Spuren Kontrolle gemacht.“
Günther Klüwer sitzt auf der Veranda seines Hauses. Über das zu den Dünen hin abfallende Land blickt er aufs Meer. Eine leichte Briese weht von der Ostsee herüber.
„Der Zaun, elektrisch geladen war der. Wir sagten immer gesiebte Luft ist das da, die kam vom Westen hier rüber.“
Gesiebte Luft und gesiebter Blick: Auf das unerreichbare Meer direkt vor der Haustür.
Klüwer: „Wir mussten alle nach Boltenhagen, Wollenberger Week zum Baden, 24, 25 Kilometer so.“
Ab 1962 war das so.
Klüwers Nachbar, Hein Ewald, ist Fischer. Er durfte zu DDR Zeiten nur in der Ostsee vor Wismar fischen, gut 40 Kilometer von der Westgrenze entfernt. Die Küste vor seiner eigenen Haustür kannte er bis zum Mauerfall nicht, denn auch das Fischen war hier verboten.
Ewalds Einzylinder-Diesel-Kutter zieht von Brook aus westwärts vorbei an Sandstrand und unbebautem Ufer. Auf Dünen und Steilküste verlief der Zaun. Ewalds Kutter passiert die ehemalige Grenze der Hoheitsgewässer der DDR gen Westen. Landeinwärts liegt der Priwall. Eine Halbinsel, die über eine schmale sandige Landbrücke mit dem Festland verbunden ist. Früher gehörte die Insel zur alten Bundesrepublik, das Festland, an dem sie hing. war allerdings die DDR.
Nach knapp 20 Kilometern unberührter Küste reiht sich jetzt Ferienhaus an Ferienhaus. Ewald umrundet den Priwall, verlässt das Meer und tuckert durch die Mündung der Trave in einen Bodden, der sich gen Süden in den Dassower See ausstülpt.
Obwohl vollständig von Mecklenburg umschlossen, gehört der See seit jeher zur Hansestadt Lübeck. Damals also ein westdeutscher See inmitten der DDR. Fischer Ewald legt am süd-östlichen Ufer des Gewässers an, vertäut seinen Kutter an der Anlegestelle der Kleinstadt Dassow.
Die ehemalige Sperrzone rund um den Dassower See ist heute Naturschutzgebiet. Hinter einem breiten Schilfstreifen steigt das Land leicht an. Es scheint, als setze sich hier das Auf und Ab des Meeres in der Landschaft fort. Fährt man von Dassow aus mit dem Fahrrad die leicht hügelige Uferzone endlang Richtung Ostsee, ist man in einer halben Stunde in Pötenitz. Dies ist der nordwestlichste Ort der ehemaligen DDR. Die damalige Grenze verlief hier quer über den schmalen Landstreifen, der auf die bundesrepublikanische Halbinsel führte, den Priwall. Wo das aber genau war, wussten wegen der vorgelagerten Absperrungen selbst die Pötenitzer nicht.
Dennoch versuchten ab 1961 über 5000 Menschen über die Ostsee zu flüchten. Selbst in Badehose war das ein Angriff auf die Seegrenze der DDR, wie es offiziell hieß. Gerade ein Zehntel der Flüchtenden kam im Westen an. Mindestens 200 Menschen ertranken. Die meisten vor der Küste zwischen Brook und Priwall.